F. E. Schrader: Zur politischen Semantik der Revolution

Cover
Titel
Zur politischen Semantik der Revolution. Frankreich (1750–1850)


Autor(en)
Schrader, Fred E.
Erschienen
Anzahl Seiten
205 S.
Preis
€ 29,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Martin Knauer, Westfälische Wilhelm-Universität Münster

Manchmal sind Buchtitel so allgemein gehalten, dass sich das eigentliche Thema des entsprechenden Werkes erst beim Blick in das Inhaltsverzeichnis erschließt. Dies gilt im Besonderen für Fred E. Schraders begriffsgeschichtliche Studie zur Französischen Revolution, bei der représentation zwar nicht auf dem Cover auftaucht, dennoch das Zentrum der Arbeit bildet. Schraders bewundernswert knapp gehaltener und auf den Punkt argumentierender Essay gliedert sich in fünf Abschnitte. Nach einer kurzen Darstellung der politisch-rechtlichen Vorgeschichte von représentation wird in den beiden Hauptkapiteln das oftmals nicht aufzulösende Spannungsverhältnis zwischen den Repräsentationsentwürfen „gepflegter Semantik“ einerseits sowie der so genannten „wilden“, populären Semantik konkurrierender Konzepte andererseits analysiert. Mit der „gepflegten Semantik“ greift Schrader auf einen Begriff von Niklas Luhmann zurück. Dieser ging in seiner Wissenssoziologie davon aus, dass die wichtigsten Strukturentscheidungen moderner Gesellschaften auf einer politisch gepflegten Semantik beruhen, in der zentrale Aspekte sozialer Kommunikation entwickelt, bewahrt und variiert werden.1 In Weiterführung jener Terminologie versucht Schrader der gepflegten Semantik französischer Wörterbücher des Ancien Régime, der Begriffsfindung der Amerikanischen Revolution sowie der Schriften eines Montesquieu, Hobbes, Rousseau und Sieyès dadurch auf die Spur zu kommen, indem er sie mit einer Analyse populärer Vorstellungen außerhalb der intellektuellen Meinungsführer und ihrer halboffiziellen Diskurse konfrontiert. Aus dieser Perspektive steht etwa die empirische Kategorie „Volk“ im Gegensatz zur abstrakten représentation einer Assemblée. Ausgewertet werden unter anderem die Cahiers de doléance, die konkurrierenden Repräsentationskonzepte der Distrikte, Communes und Revolutionsklubs sowie die radikale Semantik eines Marat, Loustalot, Hébert und Robespierre. Besonders interessant ist das vierte Kapitel, das als ergänzende Querschnittanalyse anhand des Diskurses und Gebrauchs von „États géneraux“, „Tiers état“ und „Assemblée“ das weitere semantische Umfeld des Repräsentationsbegriffs untersucht. Schraders Schlusskapitel, welches sich mit der „sozialgeschichtlichen Dimension des Wortfeldes“ befasst, bringt im Grunde nichts anderes als eine Zusammenfassung.

Anhand der Semantik eines politischen Kernbegriffs gelingt es Schrader zu zeigen, wie sich im Verlauf der Revolution unterschiedliche, mitunter gegensätzliche politische Praxisformen mit differenzierenden historischen Bezügen herausbilden, Wörter und Begriffe bekämpft, verteidigt und neu besetzt werden (S. 195). Mit der Einberufung der Generalstände wird der semantische Kontext von représentation mit einer „gesellschaftlichen Dynamik“ aufgeladen (S. 74), die sich später an den revolutionären Ereignissen messen lassen muss. Anhand der als Referenz ausgewählten Umfeldbegriffe, wie der bereits genannten „Assemblée“ oder des „Tiers état“, werden zugleich zahlreiche Konfliktfelder zwischen der gepflegten Semantik und einer „Volkssemantik“ deutlich. Nicht „die empirische Bevölkerung, sondern das Abstraktum Volk/Nation“ wird von der Assemblée repräsentiert (S. 183). Im Ergebnis ist für Schrader der von der Revolution unternommene Versuch einer „breitestmöglichen Einübung und Sozialisation abstrakter Vergesellschaftung“ (S. 196), wie ihn der Bedeutungszuwachs von représentation zeigt, nur auf einer sozial distinguierten Ebene für wenige Juristen, Rechtstheoretiker und Politiker ansatzweise erfolgreich. Auf der Ebene „wilder“ Semantik werde ansonsten „selektiv gelesen, bruchstückhaft rezipiert und eklektisch mit- und gegeneinander argumentiert“ (S. 196).

So kenntnisreich und überzeugend Schrader es auch vermag, die unterschiedlichen Diskurse und sprachlichen Ausformungen von représentation aus den Quellen zu destillieren, bildet doch ein gewisses Manko des von ihm gewählten semantischen Fokus, dass die zeitgenössische Praxis kaum an die aktuellen Forschungsdebatten rückgebunden wird. Dies zeigen nicht zuletzt die eher knappen Verweise auf die benutzte Sekundärliteratur. Dass „Repräsentation“ – wie Schrader natürlich nur allzu gut weiß – zu den aktuellen Themen der politischen Kulturgeschichtsschreibung gehört und überdies im Untersuchungszeitraum auch außerhalb Frankreichs (und des revolutionären Amerika) breit diskutiert wurde, geht in dem schmalen Band etwas unter.

Schrader, Professor für Geschichte an der Universität Paris (EA 1577) und der École normale supériere, von dem unter anderem auch eine populäre Geschichte des frühneuzeitlichen Bürgertums erschienen ist2, hat mit seiner „politischen Semantik der Revolution“ eine gewinnbringende Spezialstudie zum Sprachgebrauch der Revolution verfasst, die für den Normalleser einiges an Vorwissen voraussetzt. Erschwert wird die Lektüre zudem durch die kaum gezügelte Vorliebe des Autors für umfängliche Originalzitate. So dient etwa ein 28-zeiliges, nahezu eine komplette Textseite einnehmendes Zitat Jean Paul Marats, eines scharfen Kritikers der Assemblée, lediglich dazu, dessen „rousseauistische Orientierung“ zu dokumentieren (S. 82). Schlichtweg eine Zumutung ist die redaktionelle Betreuung des Bandes, die es ausweislich des Impressums durchaus gegeben haben muss. Neben zahlreichen – in Maßen kaum vermeidbaren – Druckfehlern oder der inkonsequenten Unterscheidung zwischen Binde- bzw. Trennstrichen und Gedankenstrichen (Halbgeviertstrichen) hat sich der Verlag offenbar dafür entschieden, das deutsche und das französische Anführungssystem parallel zu nutzen. Das mangelhafte Ergebnis ist, dass An- und Abführungszeichen beider Systeme beinahe ständig vermischt werden. Seinen traurigen Höhepunkt findet das durchweg schlampige Lektorat auf S. 134f., wo jeweils zwei fast identische Sätze in kurzem Abstand wiederholt werden.

Anmerkungen:
1 Niklas Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Bd. 1, Frankfurt am Main 1980.
2 Fred E. Schrader, Die Formierung der bürgerlichen Gesellschaft. 1550-1850 (Fischer. Europäische Geschichte, hrsg. von Wolfgang Benz, 60133), Frankfurt am Main 1996.

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